8. und 9. Kapitel
Mit Vidura erreichten Dhritarashtra und Gandhari den Wald. Vidurawählte einen Platz aus, an dem sie ihre Bußübungen verrichten konnten. Er beriet sie auch hinsichtlich der besten Mittel und Wege auf der Suche nach Selbstverwirklichung. In heiliger Gesellschaft und mit heiligen Gedanken verbrachten sie ihre Tage.
Dharmarajawar inzwischen bei Sonnenaufgang in Hastinapuraerwacht, hatte seine rituellen Waschungen vollzogen und die zeremonielle Anbetung des häuslichen Feuers ausgeführt. Auch die täglichen Almosen an die Armen hatte er ausgeteilt. Nun begab er sich wie gewohnt zu Fuß zum Palaste seines väterlichen Onkels Dhritarashtra, denn nie begann er mit der Erfüllung seiner täglichen Pflichten, ohne sich zuvor den Staub von dessen Füßen auf sein Haupt gestreut zu haben. Dharmaraja traf den König und die Königin nicht in ihren Gemächern an. Er wartete eine Weile auf ihre Rückkehr und schaute immer wieder überall nach, in der Erwartung, dass sie jeden Augenblick auftauchen würden. Es fiel ihm jedoch auf, dass die Betten unbenutzt aussahen – die Kissen wiesen keinerlei Gebrauchsspuren auf, und die Möbel erschienen unberührt. Er überlegte einen Augenblick, ob die Zimmer wohl schon aufgeräumt worden waren, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Furcht, dass die beiden fortgegangen sein könnten, befiel ihn. Er eilte in Viduras Gemach und entdeckte, dass auch er geflüchtet sein musste, denn sein Bett war ebenfalls unbenutzt.
Von den Dienern erfuhr er, dass der Heilige von seinem Besuch beim König und der Königin nicht zurückgekehrt war. Dharmaraja erschrak zutiefst. Er ging zurück in den Palast, durchsuchte sorgfältig jedes Zimmer und fand seine Befürchtungen bestätigt. Seine Hände und Beine zitterten vor Verzweiflung, seine Zunge war ausgetrocknet, und er war nicht mehr fähig, auch nur ein Wort hervorzubringen. Er fiel zu Boden, als wäre das Leben aus ihm entwichen. Als er wieder zu sich kam, konnte er nur undeutlich stammeln. Immer wiederrief er nach Vidura, und die ihn umringenden Hofbeamten hegten schon die schlimmsten Befürchtungen. Von Schreckensahnungen getrieben eiltejedermann, herbei um zu fragen, was denn geschehen sei. Im Kreise umstanden alle ihren Herrn und warteten auf seine Befehle.
In diesem Augenblick erschien völlig überraschend Sanjaya, Dhritarashtras Wagenlenker. Dharmaraja erhob sich und ergriff Sanjayas Hände. „Meine Eltern sind fort“, sprach er, „ich fand ihre Zimmer leer. Warum haben sie das getan? Sag, haben sie dir irgendetwas verraten? Wenn ich wüsste, wo sie sich aufhalten, könnte ich zu ihnen eilen, mich zu ihren Füßen niederwerfen und um Vergebung für all meine Verfehlungen bitten. Sag schnell, Sanjaya, wohin sind sie gegangen?“ Aber auch Sanjaya wusste nichts über ihren Verbleib. Er wusste nur, dass Vidura dahinter stecken musste. Auch er vergoss Tränen und Dharmarajas Hände haltend, sprach ermit vor Erregung bebender Stimme: „Herr und Meister, glaube mir, ich spreche die Wahrheit. Gewiss hat Dhritarashtra mich selbst in Kleinigkeiten befragt und meinen Rat eingeholt, doch in dieser Angelegenheit hat er gehandelt, ohne sich mit mir zu beraten, ja, ohne mich überhaupt zu benachrichtigen. Ich bin völlig überrascht. Obwohl ich ihm nahe war, weiß ich nicht das Geringste über seine Reise. Ich kann mir auch nicht vorstellen, warum er so gehandelt hat. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass er mich derart hintergehen würde. Er hat mir wohl Achtung gezollt und Vertrauen erwiesen, aber er hat mich hintergangen. Ich kann nur sagen, dass das mein Unglück ist.“ Sanjaya begann, wie ein Kind zu weinen.
Dharmaraja tröstete ihn und sagte, dass in Wahrheit alles eine Folge von Dhritarashtras eigenen Sünden sei und nicht Sanjayas Schuld. „Hieran kann man das Ausmaß unseres Unglücks ermessen!“, sprach er. „Unser Vater verschied, als wir noch klein waren, und dieser Onkel hat uns von Kindheitan aufgezogen. Wir haben ihn als Onkel wie auch als Vater verehrt und umsorgt. Ich muss unwissentlich einen Fehler begangen haben, bewusst wäre es mir nicht möglich gewesen. Onkel und Tante quälten sich im Schmerz über den Verlust ihrer hundert Söhne. Ich wollte ihnen gern ein wenig Frieden verschaffen. Daher dienten meine vier Brüder und ich ihnen von ganzem Herzen, damit sie diesen schrecklichen Verlust vergäßen. Wir haben dafür gesorgt, dass nicht das Geringste im Dienst an ihnen außer Acht gelassen wurde. Unsere Verehrung und Zuneigung ist unvermindert. Weh über uns, wenn sie diesen Ort verlassen haben! Welch ein Unglück, was für ein Schicksalsschlag!“, jammerte Dharmaraja.
„Mein Onkel und meine Tante sind alt und schwach und außerdem blind. Ich begreife nicht, wie sie es fertiggebracht haben, von hier fortzugehen. Wie müssen sie nun leiden! Nicht ein einziger Diener ist mit ihnen gegangen. Wozu habe ich denn so viele? Hilflos wie sie sind können sie längst in den Ganges gestürzt sein. Oh, ich Unglücklicher! Wie meinen Augapfel habe ich die beiden gehütet, und nun habe ich nicht verhindern können, dass dieses tragische Schicksal sie ereilt.“ Dharmaraja schlug sich in tiefem Schmerz an die Brust.
Seine Brüder hörten seine Klagen und eilten herbei, um dem Weinenden zur Seite zu stehen. Auch Kunti, die Mutter, erkundigte sich ängstlich nach dem Grund des Wehklagens. Sie schaute in alle Zimmer, und da sie Gandhari und ihren Schwager nicht fand, fragte sie Sanjaya, was ihnen zugestoßen sei. Sanjaya war nicht in der Lage, Antwort zu geben, er konnte nur noch weinen. „Wohin sind sie gegangen, alt und hilflos wie sie sind? Sagt es mir!“ rief Kunti, doch niemand konnte ihr antworten. Dharmaraja hatte seine Brüder zu sich herangewinkt und machte Gesten, die sie nicht deuten konnten. Dann nahm er allen Mut zusammen und erhob sich vom Boden. Es gelang ihm, ihnen mitzuteilen, was seit Sonnenaufgang geschehen war, und er bat Bhima, Streitkräfte in alle Richtungen auszusenden. Sie sollten die Vermissten suchen und finden, denn blind wie sie waren, konnten sie noch nicht weit gekommen sein.
Bhima, Nakula und Sahadeva gehorchten ihrem Bruder und sandten überallhin Truppen aus. Alle Straßen, Gassen und Seitengässchen wurden durchsucht. Sie schauten in alle Brunnen, überprüften alle Teiche und Seen, doch von dem blinden Paar war keine Spur zu entdecken. Da man annahm, dass sie in den Ganges gefallen waren, wurden Spezialisten herbeigerufen, um die Ufer abzusuchen und sogar in die Fluten zu tauchen, um irgendeine Spur zu entdecken. Doch alle Bemühungen waren vergebens. Die Pandava-Brüder waren untröstlich, dass sie das Königspaar nicht vor seinem schrecklichen Schicksal bewahren konnten.
Währenddessen saßen Dhritarashtra und Gandhari in vorschriftsmäßiger Haltung in seliger Kontemplation über Gott und hielten ihre Gedanken unter strenger Kontrolle. Während sie sich so in göttlicher Kontemplation verloren hatten und in allerhöchstem Glück aufgegangen waren, stürmte ein gewaltiger Waldbrand über sie hinweg und verzehrte auch sie in seinem heftigen Ansturm.
Vidura aber hatte den Wunsch, seinen Körper im Heiligtum von Prabhasakshetra abzulegen. Er floh vor dem Feuer, und voll Freude über das äußerst glückliche Ende des Paares setzte er seine Pilgerfahrt fort. So erreichte er schließlich den Ort, den er für sein Finale erwählt hatte. Hier legte er jene Hülle ab, die aus den fünf Elementen zusammengesetzt und daher materiell und vergänglich ist.
Dharmaraja, geschüttelt vom Schmerz über die Abreise seines Onkels und seiner Tante, erlitt einen weiteren, schier unerträglichen Schmerzanfall, der ihn wie Nadelstiche unter die Fingernägel traf. Wohin er sich auch wandte, überall in seinem Königreich begann er üble Vorzeichen zu sehen. In allem, was um ihn herum geschah, bemerkte er Spuren von Falschheit, Grausamkeit und Ungerechtigkeit. Dies alles begegnete ihm auf Schritt und Tritt und verwirrte ihn.
Die Folge war, dass ihn erneut unerklärliche Ängste befielen. Sein Antlitz war vor Besorgnis erbleicht und von ständiger Unruhe und Sorge gezeichnet. Die Brüder Bhima, Nakula und Sahadeva, die dies bemerkten und auch beunruhigt waren, brachten ihrem ältesten Bruder gegenüber ihre Bereitschaft zum Ausdruck, die Ursachen für seine merkwürdige Traurigkeit zu ergründen. Mit gefalteten Händen standen sie vor ihm und baten: „Herr und Meister! Von Tag zu Tag sehen wir deine Miene düsterer werden, und du scheinst mit jeder Stunde tiefer in unergründlicher Pein zu versinken. Vor Schwäche kannst du kaum noch fest auf den Beinen stehen. Falls einer von uns dir Schmerz verursacht hat, lass uns das bitte wissen. Wir wollen darauf achten, dass es nicht wieder geschieht, und wir bitten dich um Verzeihung. Falls die Gründe aber woanders liegen, so brauchst du es uns nur zu sagen. Wir wollen unter Einsatz unseres Lebens alles in Ordnung bringen und deinen Frieden wiederherstellen. Mit solch gehorsamen Helden wie uns, die wir bereit sind, jeden, wie groß und mächtig er auch sei, zur Vernunft zu bringen, brauchst du dich doch nicht dem Schmerz hinzugeben. Verrate uns den Grund und erteile uns deine Befehle.“
Dharmaraja erwiderte: „Was soll ich sagen, liebe Brüder? Überall sehe ich unheilvolle Zeichen. Wohin ich auch schaue, vom gewöhnlichen Heim der Stadtbewohner bis in die Einsiedeleien der Heiligen und Weisen, sehe ich nur schlimme Vorzeichen, Unglück und Unterdrückung jeglicher Freude. Ich habe mir einzureden versucht, all dies sei nur das Ergebnis meiner getrübten Wahrnehmung, und tat mein Bestes, um wieder Mut und Vertrauen zu fassen. Ich wollte nicht meinen Ängsten zum Opfer fallen. Aber es gelang mir nicht. Wenn ich an all die Dinge dachte, die ich gesehen hatte, wurde meine Furcht noch größer.
Was noch mehr zu meiner Traurigkeit beitrug: Ich sah Dinge geschehen, die entgegen der Sitte und Rechtschaffenheit waren. Nicht ich allein bemerkte all diese unheilvollen Anzeichen. Die Gerichtshöfe dieses Königreichs erhielten Eingaben und Klagen über Unrecht und Ungerechtigkeit, Rechtsverletzungen und Missetaten, die mich zutiefst schmerzen.
Ich sah noch Schlimmeres. Gestern Abend, bei der Rückkehr von einer Rundfahrt durch das Königreich, sah ich, wie eine Kuh sich weigerte, ihr neugeborenes Kälbchen zu säugen und für es zu sorgen! Das ist äußerst seltsam und unnatürlich. Auch sah ich einige Frauen liederlich auf dem Markt herumlungern. Ich hoffte, sie würden bei meinem Anblick nach Hause eilen – doch nein! Nichts dergleichen geschah. Sie missachteten meine Autorität, gingen weiter, als sei ich nicht vorhanden, und unterhielten sich schamlos mit den Männern. All das sah ich mit eigenen Augen, und schnell verließ ich jenen schrecklichen Ort.
Ganz in der Nähe des Königspalastes sah ich im Hineingehen einen Brahmanen Milch und Joghurt verkaufen! Ich sah Menschen, die aus ihren Häusern kamen und die Türen hinter sich schlossen! Sie befestigten ein Eisenstück daran, so dass sie von anderen nicht geöffnet werden konnten. Alle diese traurigen Veränderungen haben mich äußerst beunruhigt.
Ich versuchte, alle diese Zustände zu vergessen, und begann die abendliche Anbetung durchzuführen, die heilige Zeremonie, bei der Opfergaben ins geweihte Feuer gegeben werden – aber wisst ihr, was geschah? Ich konnte das Feuer nicht entzünden, so sehr ich mich auch bemühte! Welch ein Unheil! Meine Befürchtungen, diese Vorkommnisse seien Vorboten eines großen Unglücks, werden auch durch andere Ereignisse bestätigt. Meine Vorahnungen werden jede Minute aufs Neue genährt. Ich fühle mich zu schwach, der Sache Herr zu werden. Ich denke, dass wohl das Kali-Zeitalter begonnen hat oder gerade beginnt.
Wie sonst sollten wir folgenden Tatbestand erklären: Eine Frau hatte Streit mit ihrem Mann und klagt nun vor dem Richter, man solle ihr erlauben, ihren Mann zu verlassen und zu ihren Eltern zurückzukehren. Wie soll ich solch einer Klage im Gerichtshof gegenüberstehen: Soll man ihr erlauben, die Ehe aufzulösen, in das Haus ihrer Eltern zu ziehen und ihren Mann im Stich zu lassen? Die Klage jener Ehefrau wurde gestern am Gerichtshof angenommen! Wie könnte ich solche Gräuel unbeachtet lassen?
Wozu noch all diese Geschehnisse aufzählen! Habt ihr gehört, dass die Pferde in den königlichen Stallungen gestern zu weinen begannen? Mir wurde berichtet, sie hätten reichlich Tränen vergossen. Sahadeva versuchte, die Ursache ihres großen Kummers zu ergründen, konnte jedoch nichts herausfinden und war verwundert und bestürzt. Hier kündigt sich ein ungeheurer Untergang an, keine unbedeutende Gefahr, kein geringes Übel!“ Dharmaraja stützte sein Kinn mit der Hand und versank in tiefes Nachsinnen.
Bhima ließ sich nicht entmutigen. Mit verächtlichem Lächeln sprach er: „Die Vorfälle, die du da erwähnst, mögen geschehen sein, ich will das nicht bestreiten, aber wie könnten sie uns Verderben bringen? Warum sollten wir alle Hoffnung fahren lassen? Alle diese Regelwidrigkeiten können durch Verwaltungsmaßnahmen und deren Zwangsdurchführung in Ordnung gebracht werden. Es überrascht mich, dass du dich derart um diese Kleinigkeiten sorgst, die wir leicht in rechte Bahnen lenken können. Oder fürchtest du, dass wieder ein Krieg ausbrechen könnte? Falls du die Verwüstungen eines neuerlichen Krieges befürchtest – diese Möglichkeit ist ausgeschlossen. Alle unsere Feinde mitsamt ihrem Anhang sind mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Nur wir fünf sind übrig, und Feinde oder Freunde könnten wir höchstens unter uns suchen. Zwischen uns werden aber keine Rivalitäten ausbrechen, nicht einmal im Traum. Was also beunruhigt dich? Ich verstehe deine Sorgen nicht. Die Leute werden dich auslachen, wenn du dir diese Belanglosigkeiten auf Kosten deines Seelenfriedens so zu Herzen nimmst.“ Bhima ließ seinen mächtigen Streitkolben von der rechten Hand in die linke wandern und ließ ein Lachen hören, das halb wie Hohngelächter klang.
Darauf entgegnete Dharmaraja: „Mein Unterscheidungsvermögen und meine Einsicht stehen, was diese Angelegenheiten betrifft, den deinen nicht nach. Auch fürchte ich nicht im Geringsten, dass Feinde uns überwältigen könnten. Schließlich haben wir die berühmten Krieger Bhishma und Drona und die anderen besiegt, die imstande waren, mit einem einzigen Pfeil die drei Welten zu vernichten. Was könnte uns irgendein Feind anhaben? Was könnte uns beunruhigen, die wir das schrecklichste Ungemach mit Tapferkeit ertragen haben? Wie könnte jetzt zwischen uns Uneinigkeit entstehen, da wir in Tagen der Not so fest zueinander standen?
Vielleicht hegst du den Verdacht, ich befürchte, mir könne persönlich etwas zustoßen? Nun, nie wird mich der Gedanke beunruhigen, dass mir etwas geschehen könnte, denn dieser Körper ist nicht mehr als eine aus den fünf Elementenzusammengesetzte Wasserblase, die nur darauf wartet, wieder in ihre Bestandteile zu zerfallen. Die Auflösung muss eines Tages geschehen, der Körper muss zusammenbrechen, zerfallen, verwesen, zu Asche oder Erde werden. Sein Schicksal ist mir gleichgültig.
Meine einzige Sorge gilt nur einer bestimmten Angelegenheit. Ich will es euch verraten und nicht versuchen, den Ernst der Lage zu verschweigen. Hört also! Vor ungefähr sieben Monaten zog unser Bruder Arjuna nach Dvaraka, und wir haben seither nichts über das Befinden des Herrn von Dvaraka erfahren. Arjuna hat uns noch nicht einmal benachrichtigt, ob er in Dvaraka angekommen ist. Natürlich sorge ich mich nicht im Geringsten um Arjuna und ob er nun Dvaraka erreicht hat oder nicht. Ich weiß, dass ihm kein Feind gewachsen ist. Und wenn ihm ein Missgeschick zugestoßen wäre, so hätte Krishna uns zweifellos benachrichtigt. Ich bin also sicher, dass man sich um ihn keine Sorgen zu machen braucht.
Ich muss euch gestehen, dass meine Sorgen Krishna, den Herrn, selbst betreffen. Mit jeder Minute nimmt meine Angst zu. Mein Herz leidet unerträgliche Qualen. Mich überwältigt die Furcht, dass er diese Erde verlässt und an seinen ewigen Wohnsitz zurückkehrt. Gibt es einen größeren Grund zur Sorge?
Sollte dieses Unglück tatsächlich eingetreten sein, so werde ich nicht weiter über dieses Land regieren – nicht als Hinterbliebener des Herrn. Für uns Pandavas repräsentiert Vasudeva alle unsere fünf Lebenskräfte, Pranas, zusammengenommen. Wenn er uns verlässt, sind wir nur noch wertlose, kraftlose Leichname. Solange der Herr auf Erden weilt, wagen sich solch verhängnisvolle Zeichen nicht hervor. Unrecht und Ungerechtigkeit können nur in seiner Abwesenheit freies Spiel haben, daran besteht kein Zweifel. Meine innere Stimme sagt mir, dass dies die Wahrheit ist.“
Diese Erklärung Dharmarajas stürzte die Brüder in den allertiefsten Schmerz. Nun verloren sie allen Mut. Bhima erholte sich als Erster von dem Schrecken, sodass er sprechen konnte. Eine Woge von Traurigkeit drohte ihn zu ersticken, doch nahm er allen Mut zusammen und sprach: „Dass Arjuna noch nicht zurückgekehrt ist oder wir noch nichts von ihm gehört haben, sollte kein Anlass dafür sein, dir solch ein schreckliches Unglück auszumalen und dir die größte Katastrophe vorzustellen. Es muss einen anderen Grund für Arjunas Stillschweigen geben. Vielleicht hat Krishna selbst vergessen, uns eine Nachricht zukommen zu lassen. Lasst uns abwarten und alles zu klären suchen. Wir wollen uns nicht den Hirngespinsten hingeben, die ein unruhiger Geist eventuell webt, und ihnen noch den Deckmantel der Wahrheit umlegen. Ich nehme mir heraus, so zu sprechen, weil ich weiß, dass überspannte Nerven leicht imstande sind, solche Ängste hervorzurufen.“
Dharmaraja ließ sich jedoch nicht umstimmen und entgegnete: „Du kannst sagen, was du willst und noch so geschickt argumentieren: Ich fühle, dass meine Deutung stimmt. Wie sonst könnte gerade mir eine solche Vorstellung in den Sinn kommen? Schaut, meine linke Schulter zittert! Dieses Zeichen bestätigt, dass meine Furcht berechtigt ist. Ihr wisst, dass es ein schlechtes Omen ist, wenn die linke Schulter eines Mannes zittert, oder bei einer Frau die rechte. Nun ist dies an meinem Körper geschehen, und das ist ein schlechtes Zeichen. Nicht nur die Schulter, mein ganzes Sein – Geist, Körper, Verstand, alles ist erschüttert. Meine Augen trüben sich, ich kann immer weniger sehen. Ich sehe die Welt als ein Waisenkind, des Herrn und Beschützers beraubt. Ich verliere mein Gehör, meine Beine zittern kraftlos, und meine Glieder sind versteinert und leblos.
Braucht ihr einen noch überzeugenderen Beweis für das Fortgehen des Herrn? Liebe Brüder, glaubt mir! Selbst wenn ihr mir nicht glaubt, ändert das nichts an den Tatsachen. Die Erde bebt unter unseren Füßen. Hört ihr nicht die schaurigen Klänge, die aus dem zu Tode gequälten Herzen der Erde aufsteigen? Seen und Teiche werden erschüttert, so dass sie Wellen schlagen. Himmel und Winde, Feuer, Wasser und Erde beklagen ihr Schicksal, denn sie haben ihren Herrn verloren.
Wie viele Beweise braucht ihr noch, um euch überzeugen zu lassen? Vor einigen Tagen kam die Nachricht, in einigen Teilen unseres Königreiches seien blutige Regenschauer niedergegangen.“
Bei diesen Worten begannen Nakula und Sahadeva hemmungslos zu weinen. Ihr Herz war vom Schmerz schwer getroffen, sie konnten sich nicht mehr aufrecht halten – ihre Beine versagten den Dienst.
Quelle: Sanathana Sarathi August 2021
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